Die Ungarin Ildikó Enyedi gehört
zu den eigenwilligsten Stimmen des europäischen Autorenkinos. Mit Filmen wie
„Mein 20. Jahrhundert" oder „Körper und Seele"
hat sie das Alltägliche stets mit dem Übernatürlichen verbunden. Ihr neuer Film
„Silent Friend", der im Wettbewerb von Venedig lief, Luna Wedler den
Mastroianni-Preis als beste junge Entdeckung einbrachte und zum
Kritikerliebling avancierte, erweitert dieses poetische Universum – und
reflektiert zugleich unsere Pandemie-Erfahrung.
Es sind drei Zeitlinien, die den Film
durchziehen, verbunden durch die Kulisse des Universitätscampus in Marburg.
Tony Leung spielt einen Neurologieprofessor aus Hongkong, der beim ersten
Lockdown in Marburg festsitzt – isoliert zwischen leerem Hörsaal,
verschlossenen Laboren und unter der Kontrolle eines misstrauischen Wachmanns.
Ein Jahrhundert zuvor betritt Grete (Luna Wedler) als erste Frau die
Universität und behauptet sich in einer männlich dominierten Akademie. Und 1972
baut der Student Hannes eine intime Verbindung mit einer Geranie auf. Mit all
diesen losen, botanisch-metaphysischen Geschichten erkundet Enyedi
Verschiebungen der Wahrnehmung: Einsamkeit, Routineverlust, ein anderes Sehen.
Es geht ihr dabei nicht um die naive Vermenschlichung der Natur, sondern um
eine Einladung, sie als Gegenüber ernst zu nehmen. „Silent Friend" ist ein
hoffnungsvoller Film, weil er von einer Welt träumt, die nicht endet und
zugrunde geht, sondern die sich entfaltet und wächst – wie der massive
Ginkgobaum im Garten der Universität von Marburg.

