Budapest,
1957: Der zwölfjährige Andor Hirsch wächst in einer Stadt auf, die nach
dem gescheiterten antikommunistischen Aufstand von sowjetischer Kontrolle
geprägt ist. Aus dem Waisenhaus zurückgekehrt, lebt er wieder bei seiner
Mutter, die sich neu binden will – an den Metzger Berend. Für Andor bleibt
jedoch der tote Vater, ein Schaffner, innerer Kompass: Er spricht mit ihm im
Heizkeller, sammelt Fahrkarten, klammert sich an Relikte wie an Rettungsinseln.
Doch die Nähe zu Berend birgt eine Wahrheit, die sein Selbstbild ins Wanken bringt.
László
Nemes, berühmt für das radikal subjektive Holocaust-Drama „Son of Saul",
erzählt erneut von einem Leben als Produkt der Weltkriegsgeschichte. Diesmal
ist alles auf den Blick des Jungen verengt: gedreht auf 35mm, in engen,
subjektiven Bildern, die wie vergilbte Postkarten wirken. Das jüdische Erbe
bleibt ein Makel, die Gesellschaft ein Minenfeld. „Orphan" lässt sich
damit als negative Spiegelung von „Son of Saul" lesen: Dort hielt ein
Vater am Bild des Sohnes fest, hier ist es der Sohn, der sich am Vaterbild
klammert. Beide Male wird Kino zum letzten Medium der Erinnerung. Mit formaler
Strenge und bedrückender Intensität reiht sich Nemes in die Tradition des
ungarischen Modernismus – von Jancsó bis Tarr – ein. Ein Film über Schuld und
Schweigen und den Horror der Abstammung.

